Warum German Engineering nicht mehr ausreicht

VonSebastian Eisold,Dr.-Ing. Dieter Hofferberth,Dr.-Ing. Patrick Spall
Automotive, Blogartikel

Neue, internationale Wettbewerber, kürzer werdende Innovationszyklen und die digitale Revolution führen dazu, dass Produkte immer schneller weiterentwickelt werden. Parallel verlieren die deutschen Automobilhersteller international immer mehr an Bedeutung. So ist der weltweite Marktanteil von deutschen Premiumherstellern seit 2019 um 12 Prozent auf 17,3 Prozent gesunken. Diesen Einbruch spüren auch die automobilen Zulieferer. Um wieder markt- und wettbewerbsfähig zu werden, sind erhebliche Investitionen in neue Technologien und neue Produkte nötig. Für die Produktentstehung ergeben sich daraus gleich mehrere Herausforderungen.

Kürzere Time-to-Market Anforderungen

 Produkte müssen heute schneller entwickelt werden, um dem technologischen Fortschritt gerecht zu werden. Dies erfordert rasches Adaptieren neuer Methoden und Werkzeuge und die Integration interdisziplinärer Teams - das alles unter dem Gesichtspunkt möglichst kurzer Entscheidungswege. Durch den Einsatz neuer Instrumente haben Tier 1s Entwicklungszeiten um bis 30 Prozent verkürzt.

Komplexität moderner Technologien

Moderne Fahrzeuge integrieren immer mehr smarte bzw. vernetzte Systeme, um die Fahrgastsicherheit und den Komfort für den Kunden zu steigern. Die Abstimmung und Validierung solcher mechatronischen Systeme stellt erhebliche Anforderungen an die funktionale Sicherheit und Zuverlässigkeit und ist daher enorm aufwändig und zeitintensiv. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, arbeiten laut eigenen Angaben 111.000 Ingenieure bei dem chinesischen Hersteller BYD an neuen Technologien. Dies sind deutlich mehr F&E-Mitarbeiter, als bei VW (63.000) und BMW (32.000) zusammen.  

Steigende Investitionen in Forschung und Entwicklung

Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Automobilunternehmen erhebliche Mittel in Forschung und Entwicklung (F&E) investieren. Dies stellt insbesondere dann eine Herausforderung dar, wenn gleichzeitig Margen unter Druck geraten. Unternehmen wie BMW und Mercedes-Benz Group haben ihre F&E-Budgets in den Bereichen Elektromobilität und autonomes Fahren erheblich aufgestockt, um technologisch weiter Spitzenreiter zu sein.

Neue Anforderungen an Prozesse und Organisation

Die Integration neuer digitaler Technologien wie Big Data Analytics, neuronale Netze, künstliche Intelligenz und Machine Learning stellt etablierte Branchen in ihren Strukturen vor disruptive Herausforderungen. Junge Automobilhersteller wie z.B. Tesla oder BYD haben Strukturen und Prozesse aus der Entwicklung kurzzyklischer Elektronik- oder Softwareentwicklung übernommen.

Fokus auf Kern-Kompetenzen

Der zunehmende Fachkräftemangel, Wettbewerbs- und Margendruck erfordern einen zielgerichteten Ressourceneinsatz auf die vom Kunden als markenspezifisch wahrgenommenen Eigenschaften bzw. Merkmale. Strategische, aber auch projektspezifische Entwicklungspartnerschaften spielen daher eine zunehmend wichtigere Rolle in der gesamtheitlichen Produktentwicklung. Als ein bekanntes Beispiel kann hier die Kooperation zwischen der Mercedes-Benz Group und NVIDIA für das ursprüngliche MBUX-System als neuartiges Mensch-Maschine-Interface genannt werden.

Hohe Lohn- und Betriebskosten

Lohn- und Betriebskosten machen einen großen Teil der Kosten in der Entwicklung aus. Dies führt in Hochlohnländern unweigerlich zu Preisnachteilen im internationalen Wettbewerb, vor allem mit automobilen OEMs aus Asien, die einen Lohnvorteil von 33 % im Ingenieurssektor haben.

Transformation statt halbherziger inkrementeller Optimierungen

Viele Führungskräfte stellen sich daher die Frage, wie sie Ihr Unternehmen in der Produktentstehung für die Zukunft aufstellen. Wie schaffen wir es, Termine bei limitierten Ressourcen einzuhalten? Welche Rolle spielt die Integration von Best Cost Country (BCC)-Standorten oder Partnerschaften mit Start-ups? Wie nutzen wir in Zukunft systematisch die Möglichkeiten von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz?

 Typische Fragen von Führungskräften im Bereich Produktentstehung

Sicher ist, das Markenversprechen „Deutsche Ingenieurskunst“ reicht nicht mehr aus, um im globalen Wettbewerb langfristig bestehen zu können. Eine Neuausrichtung ist unausweichlich.

Ein einseitiges Abschmelzen von Kapazitäten zur Kostenreduzierung ist dabei langfristig ebenso wirkungslos, wie halbherzige Prozessoptimierungen. Die Organisation muss komplett neu ausgerichtet werden. Das beginnt bei einer klaren Unternehmens- und einer davon abgeleiteten Produkt- und Entwicklungsstrategie, dies beinhaltet Footprint-Optimierung und die Integration neuer Partner bzw. Kompetenzen. Effizienz-fokussierte Methoden und Prozesse, die kollaboratives Arbeiten über Fachabteilungsgrenzen bzw. Unternehmensbereiche fördern sind notwendig, um das volle Produktentstehungspotential eines Unternehmens zu fördern.

Bei einer ganzheitlichen Betrachtung sind drei Systeme zu berücksichtigen:

  1. Das technische System beschreibt Prozesse, Kennzahlen und die Aufbauorganisation.
    Es bildet das Gerüst, wie ein Unternehmen funktioniert.
  2. Das Managementsystem beschreibt die Governance, Ziele, Erfolgskontrolle, Problemlösung und Führung.
    Dies erklärt, warum selbst gut aufgestellte Unternehmen mit innovativen Produkten ins Straucheln geraten können, wenn das Managementsystem und die Führung nicht optimal ausgeprägt sind.
  3. Das soziale System beschreibt die Ablauforganisation und Art der Zusammenarbeit.
    Insbesondere bei starken Veränderungen können hier Widerstände entstehen, die eine Transformation bremsen oder zum Scheitern bringen. Deshalb ist es wichtig, bei einer Neuausrichtung alle drei Ebenen gleichermaßen zu gestalten und somit die Nachhaltigkeit von Veränderungen fest im Unternehmen zu verankern.
Die Lösung: Produktentstehung End-to-End transformieren

Im Gegensatz zu einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess mit inkrementellem Charakter, setzt eine Transformation auf fundamentale Veränderungen. Man benötigt Mut, Kreativität und die nötige Ausdauer, um diese Reise zu starten und umzusetzen.

Kernelement dieser Reise ist ein konsequentes, kundenzentriertes Prozessdenken (End-to-End) und die entsprechend durchgängig strukturierte Organisation („Seamless enterprise“). Mit dieser Sichtweise werden Ineffizienzen und Verschwendungen in den Strukturen und Arbeitsabläufen identifiziert, quantifiziert und eliminiert. Dies beinhaltet:

  • Neugestaltung und Verschlankung der Prozesse (End-to-End) mit durchgängigem Fokus auf Kundennutzen und schnellen Durchlaufzeiten
  • Identifizierung von Möglichkeiten zur Digitalisierung und Automatisierung von Prozessschritten
  • Anpassung der Aufbauorganisation, um die neuen Prozesse bestmöglich zu unterstützen und unnötige Schnittstellen zu reduzieren  
  • Abgleich der Kompetenzen und Ressourcen auf zukünftige Anforderungen
  • Integration von BCC-Standorten um Kompetenzen zu stärken, Marktnähe zu generieren, als auch Kostenvorteile zu nutzen
  • Aufbau von Netzwerken mit Startups bzw. Entwicklungskooperationen
  • Entwickeln der Organisation zu einem selbstlernenden System, um permanent aus eigener Kraft neue Anforderungen zu erkennen und optimal anzupassen 

Beeindruckende Ergebnisse sind möglich

Am Ziel der Reise angekommen, sind deutliche Verbesserung bei der Time-to-Market, der On-Time Delivery von Projekten sowie der Zielbudgeterreichung feststellbar.

Es gibt keinen zweiten Weckruf. Wettbewerbsfähig wird zukünftig nur der sein, der frühzeitig Herausforderungen erkennt, darauf konsequent reagiert, mutig Veränderungen umsetzt und systematisch dabei vorgeht.  

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